Kommentar zu "Wir brauchen die Schlauen" (Zeit Online)

Als ich den Artikel http://www.zeit.de/2013/13/Elsbeth-Stern-Aljoscha-Neubauer-Intelligenz zu lesen begonnen habe, habe ich mir gleich vorgenommen, ihn zu zerpflücken, denn er strotzt nur so von Behauptungen, deren Grundlage fragwürdig ist.

"Wie die Schule begabte Kinder fördern muss, damit ihre Intelligenz nicht verkümmert", lautet gleich der erste Satz. Damit werden gleich zwei Dinge behauptet: Erstens, dass die Schule begabte Kinder fördern müsse, und zweitens, dass ohne schulische Förderung die Intelligenz verkümmerte.

Die Aufgabe der Schule ist die Sozialisation, die Anpassung an die Bedürfnisse der Gesellschaft. Das ist für den einzelnen Schüler in vielen Fällen eine eher unangenehme Angelegenheit. Wenn die Schule begabte Kinder fördern muss, dann bedeutet das also, dass sie die begabten Kinder so fördern muss, dass die Gesellschaft einen (noch größeren) Nutzen von ihnen hat. Es geht folglich nicht um die Bedürfnisse der Kinder. Man kann sich schon vorstellen, welchem Stress ein Kind ausgesetzt wird, wenn von ihm - einem Kind, das in erster Linie an Selbstverwirklichung interessiert ist - nicht nur gefordert wird, Leistung in dem Maß zu erbringen, wie es von allen Kindern verlangt wird, sondern in einem noch höheren Maß, eben weil es "begabt" ist.

Die zweite These ist, dass ohne (schulische) Förderung die Intelligenz verkümmere. Das ist schon eine sehr fragwürdige These. Warum sollte sich die Intelligenz nicht auch entwickeln, wenn einfach dem Kind die Möglichkeit geboten wird, sich mit den Dingen zu beschäftigen, die es persönlich interessieren? Es ist natürlich klar: Die Intelligenz wird sich, wenn man dem Kind erlaubt, sich frei zu entfalten, anstatt sich an die Forderungen der Gesellschaft anzupassen, möglicherweise auf eine andere Weise manifestieren. Das Kind wird das tun, was ihm Freude bereitet, und nicht das, was andere Personen gerne von ihm hätten. Aber warum sollte die Intelligenz ohne schulische Förderung verkümmern? Verkümmert denn die Intelligenz von Erwachsenen, die ihre Schulpflicht schon erfüllt haben und deswegen keiner schulischen Förderung mehr ausgesetzt sind?

Aber kommen wir nun zur These, die im Artikel als die "erste" These bezeichnet wird: "Wir müssen den besonders intelligenten Nachwuchs fördern, denn wir brauchen ihn." Das wird wie folgt begründet: "Moderne Gesellschaften brauchen viele Menschen, die geistig flexibel sind, die Neues erfinden und entdecken, die bereit sind, Verantwortung zum Wohle aller zu tragen. Überdurchschnittliche Intelligenz ist dazu eine notwendige Voraussetzung." Angenommen, die letzte Aussage stimmt tatsächlich. Dann ist die überdurchschnittliche Intelligenz eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung. Warum müssen dann alle überdurchschnittlich intelligenten Kinder gefördert werden? Warum nicht nur jene, die tatsächlich "Neues erfinden und entdecken [und] bereit sind, Verantwortung ... zu tragen"? Wenn man von allen überdurchschnittlich Intelligenten verlangt, dass sie (irgendwann in ihrem Leben) "Neues erfinden und entdecken", dann setzt man sie einem unfairen Druck aus, denn es gibt eben auch überdurchschnittlich Intelligente, die trotz ihrer Intelligenz nicht über die Neigungen verfügen, welche dazu führen könnten, dass sie eines Tages "Neues erfinden und entdecken" werden. Die gleiche Argumentation gilt auch für das Tragen von Verantwortung.

In Frage zu stellen ist aber auch die Behauptung, dass überdurchschnittliche Intelligenz notwendig sei, um "Neues [zu] erfinden und [zu] entdecken" oder "Verantwortung ... zu tragen". Warum sollten durchschnittlich Intelligente dazu nicht in der Lage sein?

Weiter im Text heißt es: "Damit sie [die überdurchschnittliche Intelligenz] auch zum Tragen kommt, müssen überdurchschnittlich intelligente Menschen vor allem in der Schule so gefördert werden, dass sie ihre allgemeine Intelligenz in spezifische Höchstleistungen ummünzen können, etwa in Mathematik und Naturwissenschaften, aber auch in der Ökonomie und im sozialen Bereich. Das gelingt bislang nur unzureichend, weil überdurchschnittlich intelligente Schülerinnen und Schüler nicht genügend gefördert werden und weil es viele intelligente Arbeiter- und Einwandererkinder nicht aufs Gymnasium schaffen und somit unentdeckt in geistig weniger anregenden Schulen versauern."

Ich persönlich vertrete erstens die Ansicht, dass Personen, die sich für ein bestimmtes Fach (beispielsweise Mathematik) besonders interessieren, sich umfangreiches Wissen in diesem Fach von selbst aneignen werden und dazu nicht durch die Schule gefördert werden müssen. Zweitens stellt sich die Frage, warum besonders intelligente Personen ihr Hauptinteresse überhaupt an den Fächern, die in den Schulen und an Universitäten gelehrt werden, haben müssen. Ein Hochbegabter mag sich vielleicht für die Programmierung von Computerspielen besonders interessieren und in der Schule nur (relativ) wenig Wissen vermittelt bekommen, das hierfür sinnvoll verwendet werden könnte. Er muss sich also das meiste selbst beibringen. Und das tun viele. Somit ist wiederum fraglich, warum unbedingt die Schule die Begabten fördern müsse.

Weiter geht es mit der "sechsten" These: "Alle Menschen brauchen schulische Bildung, um ihre Intelligenz zu entwickeln. Bis zum zehnten bis zwölften Lebensjahr, also grob bis zum sechsten Schuljahr, unterliegt der IQ noch größeren Schwankungen. In dieser Zeit entscheidet die Schule nicht nur darüber, was ein Kind lernt, sondern auch darüber, ob es sein genetisches Intelligenzpotenzial entfalten kann. Deshalb muss das Lernen in der Grundschule genauso überdacht werden wie der Zeitpunkt des Übergangs aufs Gymnasium oder andere weiterführende Schulen. Inhaltlich anspruchsvoller Unterricht von fachlich und didaktisch gut ausgebildeten Lehrern ist für alle Kinder, unabhängig von ihrer Intelligenz, gut. Dabei müssen die Lehrer vor allem die unterschiedlichen Lerngeschwindigkeiten im Blick haben, den weniger intelligenten Kindern mehr Zeit lassen und den intelligenteren Kindern mit Zusatzaufgaben mehr Denkfutter geben."

Die Behauptung, dass die Schule für die Intelligenzentwicklung notwendig wäre, ist aus bereits genannten Gründen fragwürdig: Kinder können ihre Intelligenz auch durch selbstständiges Beschäftigen mit den Dingen, die sie interessieren, entwickeln. Ob Unterricht für alle Kinder gut ist, ist ebenfalls fraglich. Manche Kinder haben es lieber, alles selbst herauszufinden, anstatt einem Erwachsenen zuzuhören, der ihnen die "Geheimnisse", auf die sie selbst durch Nachdenken und Experimentieren kommen könnten, verrät. Man kann also auch die "achte" These in Frage stellen: Kinder benötigen nicht unbedingt gute Lehrer, manche Kinder brauchen gar keine Lehrer.

Der Gipfel der Frechheit ist die Behauptung: "Die Universitäten haben ein Recht darauf, die Intelligentesten eines Jahrgangs zu versammeln, um die künftigen Verantwortungsträger in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft akademisch zu bilden." Erstens: Wer sagt, dass die "Intelligentesten eines Jahrgangs" Interesse hätten, "Verantwortungsträger in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft" zu werden? Zweitens: Wer sagt, dass die Universitäten für diese Bildung geeignet wären? Es gibt genügend Beispiele von erfolgreichen Unternehmern, die nur kurze Zeit an einer Universität studiert und ihr Studium nie abgeschlossen haben, nicht einmal mit dem Grad eines Bachelors (Bill Gates und Mark Zuckerberg sind wahrscheinlich die bekanntesten dieser Sorte). Wer sagt, dass die Universitäten über die nötige Kompetenz verfügten, die Intelligentesten so auszubilden, dass diese davon in einer späteren Tätigkeit als Führungspersönlichkeit profitieren? Vielleicht würde eine Hochschulbildung sogar schadhaft sein, weil an den Universitäten krause Theorien vermittelt werden, die das Denken der künftigen Verantwortungsträger vernebeln! Nicht zuletzt ist ja auch fragwürdig, ob die an Universitäten lehrenden Personen hochintelligent sind (die Autoren des von mir kommentierten Artikels sind ja ebenfalls Hochschullehrer).

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

The Demoscene

Digital Art Natives

Autobiographical Sketch